Bitte guck hin und such dir Hilfe - wenn Kinder sich Ritzen

 

NSSV - Nicht-suizidales selbstverletzendes Verhalten

Als sich eine Jugendliche an mich wandte, hilflos und verzweifelt, weil sie sich nicht traute, sich ihren Eltern anzuvertrauen, dachte ich, das ist ein seltenes Problem: das Ritzen. Ich selbst kannte das Problem weder von mir, noch von meinen Kindern.
Wenn sich Jugendliche, vor allem im Alter zwischen 13 und 15 durch Fingernägel, Rasierklingen oder Glasscherben selbst verletzen, sich Prellungen oder Verbrennungen zufügen, nennt man das NSSV, Nicht-suizidales selbstverletzendes Verhalten.


Methoden der Selbstverletzung


Das ist nichts für schwache Nerven, zumindest nicht für meine. Neben dem „normalen“ Ritzen der Haut können die Verstümmelungen ebenso im Genitalbereich vorkommen, aber auch bis zum Entfernen des Augapfels. Ja, du liest richtig. Die Jugendlichen bohren sich so tief in ihre Augenhöhle, bis sie das Auge herausreißen. Aber auch das Konsumieren von Chemikalien, also das Trinken von Reinigungsmitteln, das Abschnüren von Körperteilen oder Aufsprühen von Deos und Haarsprays bis zu Erfrierungserscheinungen sind Methoden, die die Jugendlichen anwenden.


Social Media-Selbstverletzungs-Forum


Ganz ehrlich? Mir wird schlecht bei der Liste der Selbstverletzungen und wenn ich das lese, möchte ich die Uhr 25 Jahre zurückdrehen und sagen: „Okay, es ist schön, wenn Menschen Kinder kriegen, aber ich glaube, ich fühle mich der Verantwortung nicht gewachsen.“ Die Jugendlichen tauschen sich ernsthaft in Foren in den Sozialen Medien aus. Es gibt f*** Apps, wo sie sich austauschen - Leute, ehrlich? Es gibt YouTube-Videos - Leute, wo sind die Video-Löscher, die das die letzten zwei Jahre akribisch und massenhaft bei Covid erledigt haben? Es gibt Blogs - hilft das wirklich oder spornt das an und lädt zum Nachmachen ein?


Emotionen haben auch Eltern


Ich bin mit dem Mädchen zu ihren Eltern gefahren und haben mit der Mutter geredet. Sie ist in Tränen ausgebrochen und ich kann das nur allzu gut nachempfinden. Als Mutter - und auch Vater - möchte man sein Kind beschützen vor den Gefahren dieser Welt. Aber wie schützt man sein eigenes Kind vor sich selbst? Da ich selbst Mutter von 5 Kindern bin, zerreißt es mir das Herz.


Jeder dritte Deutsche


Noch während ich das hier schreibe, laufen mir die Tränen die Wange herunter. Es bringt mich an den Rand der Verzweiflung, dass wir es in Deutschland mittlerweile „geschafft“ haben, dass unsere Jugendlichen mit diesem Problem im europäischen Vergleich auf einem der Spitzenplätze sind. Jeder dritte Jugendliche hat sich selbst schon verletzt, oft wissen die Eltern darüber NICHT Bescheid. Und etwa 10 % begehen tatsächlich  Suizid (=Selbstmord).


Aufmerksamkeitsdefizit?


Während die Mutter in Tränen ausgebrochen war, meinte der Vater einfach nur eiskalt: „Sie will doch nur Aufmerksamkeit.“ Weißt du was? Genau das ist leider NICHT das Problem. Sie wollen keine Aufmerksamkeit, sie kommen mit ihren (negativen) Gefühlen nicht klar. Im Jugendclub hatte ich einige Mädchen, die das betraf, aber keinen einzigen Jungen. Und dennoch kommt das auch bei Jungs vor, wenngleich etwas weniger als bei Mädchen. Die Betonung liegt auf „etwas“, also bitte nicht ausruhen, liebe Eltern!


Selbstbestrafung?


Was genau treibt einen Menschen dazu, sich selbst Schmerzen zuzufügen, wo doch der Mensch darauf geeicht ist, jeglichem Schmerz auszuweichen und um sein Überleben zu kämpfen? Spüren sie ihren Körper nicht? Wollen sie sich selbst bestrafen? Wofür?


Warum?

Was genau treibt einen Menschen dazu, sich selbst Schmerzen zuzufügen, wo doch der Mensch darauf geeicht ist, jeglichem Schmerz auszuweichen? Spüren sie ihren Körper nicht? Wollen sie sich selbst bestrafen? Wofür?


Was ist Borderline?


Der korrekte Begriff ist die „Borderline-Persönlichkeitsstörung“. Ein falsches Wort, und das Fass läuft über. Ohne Vorwarnung spüren Menschen mit dieser Erkrankung eine unbändige Wut, Verzweiflung und der Leidensdruck wird so hoch, dass sie die innere Spannung nur entladen können, wenn sie sich selbst verletzen. Etwa 2,7 % der Erwachsenen (!) in Deutschland haben laut Ärzteblatt Borderline, bei den Jugendlichen sind es sogar 6 %. Die Selbstverletzungsrate liegt zwischen 69 und 80 %, 5 - 10 % begehen Suizid.


Heute Freund - morgen Feind


Was mir besonders stark aufgefallen ist während meiner Arbeit mit Jugendlichen, ist die Tatsache, dass sie auch enormen Stimmungsschwankungen ausgesetzt waren. Die konnte so schlimm sein, dass die Mädels (in meinem Fall waren es Mädchen), sich in der einen Woche himmelhochjauchzend verliebt an den Hals ihres Freundes warfen und in der nächsten Woche Schluss gemacht haben, weil er plötzlich dem Feindbild entsprach. Eine weitere Woche später drehte sich der Spieß wieder um. 


Warnsignale - wie erkennen Eltern das Ritzen des eigenen Kindes?


Oft entgeht den Eltern, dass sich ihre Kinder selbst verletzen. Mit viel Glück vertrauen sich die Betroffenen ihren Freunden an, die die Sorgen um den Freund oder die Freundin nicht ertragen und sich jemandem anvertrauen. Die Eltern sind in vielen Fällen die letzten, die von dem Problem ihrer Kinder erfahren, dabei sind sie diejenigen, die die Verantwortung für das Wohlergehen und die Gesundheit ihres Kindes haben. Wenn sich das Kind bzw. der/die Jugendliche bei warmen Temperaturen in Pullover und lange Hosen trägt, nicht zum Schwimmen gehen will, aber auch wenn sich das Kind zurückzieht und jegliche Gesprächsangebote ablehnt, können das Warnsignale sein.


Kurzfristige Selbsthilfe - Notfallkoffer



Im Netz findet man verschiedene Vorschläge, wie Jugendliche den Impuls des Ritzens unterdrücken kann, dazu gehören:

  • sich mit Sport abreagieren
  • Anti-Stress Spielzeuge nutzen
  • Intelligente Knete nehmen
  • Massagebälle mit harten Noppen dabei haben
  • Massageringe für den Finger zum Entspannen
  • Gummibänder schnicken
  • Kalt duschen
  • Einen Boxsack - oder Kissen schlagen
  • Tagebuch schreiben
  • Nummer gegen Kummer anrufen (JugendTelefon 116 111, Elterntelefon 0800-1110550)


Hänge die „Nummer gegen Kummer“ gerne an den Kühlschrank. Ich habe das im Jugendclub gemachte auch wenn das (nach außen hin) nicht auf Gegenliebe gestoßen ist.



Wo finden Betroffene Hilfe?


Die Hoffnung, dass sich das Problem „verwächst“ hatte ich auch, aber das tut es nicht. Und Eltern können die Lösung auch nicht alleine herbeiführen, das ist ein Irrglaube. Im ersten Schritt kann man sich an die öffentlichen (kostenlosen) Erziehungsberatungsstellen oder den Kinderarzt wenden, aber es gibt auch (total überlaufene) Jugendtherapeuten. In vielen Fällen kann es sein, dass eine ambulante Psychotherapie nicht ausreicht und das Aufsuchen von Psychiatern oder auch die stationäre Aufnahme in einer Kinder- und Jugendpsychiatrie notwendig ist.



Bitte schaut nicht weg! Sobald ihr davon erfahrt, kommt aus dem Knick und greift helfend ein. Ich habe zwei Jugendliche erlebt, die tot am Baum hingen. Das möchte kein Elternteil erleben.


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